Hörbuch „Erzähl mir was vom Pferd!“
Der Sprecher Holger Löwenberg
führt durch das Pferde-Land Westfalen.
Er beschreibt Bilder
und erzählt von den Menschen und Pferden.
„Erzähl mir was vom Pferd!“ Hörbuch gesamt
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Hörbuch-Text
Hallen und Halfter
Schön, dass Sie da sind! Wir laden Sie ein zu einer fotografischen Reise durch das Pferdeland Westfalen. "Pferdeland" deshalb, weil Westfalen von einer großen Liebe zu Pferden geprägt ist. Wie sich diese Liebe im Alltag der Menschen äußert, möchten wir Ihnen in unserer Fotoausstellung näherbringen: Wir nehmen Sie mit in westfälische Landschaften, die Ihnen vielleicht noch unbekannt sind. Wir erzählen Ihnen Geschichten von Menschen, deren Gedanken um Pferde kreisen – sei es in der Freizeit oder im Berufsleben. Und wir verraten Ihnen, welche Momente der Fotoreise uns persönlich besonders bewegt haben. Nun lassen Sie uns gemeinsam erkunden, erfühlen und erfahren, welche Bedeutung das Pferd für die Seele Westfalens hat.
Ludwig, Keks, St. Martin, Fifty-Fifty – diese und andere Pferdenamen stehen auf kleinen weißen Zetteln. Jemand hat sie mit schwarzem Filzstift geschrieben, darunter jeweils eine Nummer. Die Zettel kleben an zwei Holzleisten, die übereinander an einer Wand angebracht sind. An jedem Namensschild hängt ein Zaumzeug, und alle ähneln sich: dunkles Leder, schwarzweißer Stirnriemen. Nur die Gebissstangen sind etwas unterschiedlich. Sie weisen darauf hin, dass es sich hier um die Ausrüstung professioneller Reiterinnen und Reiter handelt. Der Rest wirkt weniger einheitlich: Die Wand trägt rohen Putz, daneben hellgelbe Fliesen, darunter graue Holzlatten. Auf dem Boden stehen drei Stühle: ein schwarzer aus Leder und Metall, ein grüner aus Holz, ein braungemusterter im 70er-Jahre-Stil. Alle sind abgenutzt, leicht ramponiert und staubig. Trotzdem wirkt der Ort freundlich und einladend. Das Licht der Sonne fällt schräg herein und schafft eine warme Atmosphäre.
Das Foto ist auf dem Landgestüt Warendorf entstanden. Auf anderen Reiterhöfen finden wir ganz ähnliche Stillleben: Zaumzeug, Sättel und Satteldecken in wunderschönen Stapeln und Strukturen. Die Reithallen beeindrucken uns durch ihre vielfältigen Dachkonstruktionen, und auch manche Pferdeställe sind ästhetische Erscheinungen – vor allem, wenn sie unter Denkmalschutz stehen wie in Warendorf. In den Hallen sehen wir jede Menge Holz an den Decken und Sand auf den Böden, immer mit Fußabdrücken von Pferden und Menschen. Natürlich haben wir selbst auch ständig Sand unter den Schuhen! Und den wunderbaren Duft von Leder in der Nase.
Überall entdecken wir Gegenstände, die man anfassen möchte: ein Set aus Bürste und Hufauskratzer in Rot, einen Steigbügel, einen Strick mit Karabinerhaken, eine Mistgabel, eine Reihe von Reisigbesen. All diese Dinge scheinen auf ihren Einsatz zu warten, darauf, dass bald wieder Menschen auftauchen, die sie benutzen, weil sie ihr Herz an ein Pferd verloren haben. Und wir selbst sind beim Fotografieren der Meinung, dass wir die Menschen und Pferde schon hören können: ihre Stimmen und ihr Lachen, ihr Hufgetrappel, Wiehern und Schnauben.
Geduld und Gehorsam
Das weiche Fell des Pferdes, sein süßer Duft, die beruhigende Körperwärme und seine gleichmäßigen Bewegungen – all das kann einem Menschen helfen, ein besseres Gespür für sich selbst zu bekommen. Auf dieser Idee beruht die Reittherapie. Der Kontakt zu den Pferden soll die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stärken: in ihrer Beweglichkeit, in ihrer Fähigkeit zu kommunizieren, im Umgang mit ihren Gefühlen und letztlich in ihrem Selbstbewusstsein. Wir besuchen den Hof Lohmann im Kreis Warendorf, eine heilpädagogische Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Eine Gruppe junger Erwachsener macht dort ein paar Tage Urlaub, und wir dürfen eine Stunde Reittherapie miterleben.
Zwei Personen, dazwischen ein Pferd. Auf der linken Seite steht eine junge Frau, ihr Scheitel kaum höher als der Pferderücken. Sie trägt ein zerknittertes T-Shirt, die Haare sind zerzaust – Anzeichen einer körperlichen Anstrengung, die gerade hinter ihr liegt. Jetzt hat sie eine Hand auf das Maul des Pferdes gelegt. Sie scheint zu dem Tier zu sprechen. Rechts im Bild steht eine ältere Frau im hellgrünen Poloshirt, ungefähr auf Augenhöhe mit dem Pferd. Sie beobachtet in aller Ruhe, was die junge Frau ihr gegenüber tut. Das Pferdemaul in der Mitte verbindet die zwei Frauen: Beide fassen es gleichzeitig an.
Erstaunlich, wie geduldig die Therapiepferde sind, selbst wenn die Menschen sich unbeholfen bewegen. Offenbar machen die Tiere die therapeutischen Übungen gerne mit: Sie lassen sich langsam im Kreis herumführen, mit einer Bürste striegeln oder liebevoll umarmen. Manche Teilnehmer reiten auf ihnen – mit oder ohne Sattel, mit dem Gesicht nach vorne oder nach hinten. Wenn die Pferde etwas besonders genießen oder überhaupt nicht mögen, lassen sie es ihr Gegenüber direkt spüren. Diese filterlose Reaktion ist für die Teilnehmer eine wichtige Erfahrung. Die Therapeutinnen sorgen dafür, dass sich alle wohlfühlen, sowohl die Menschen als auch die Tiere. Auffallend ist: Das Geschehen löst starke Emotionen aus. Zum Beispiel bei einem jungen Mann, der mit leuchtenden Augen auf einem Pferd sitzt und seine Arme fest um dessen Hals schlingt. Oder auch bei einer Therapeutin: Sie wirkt ergriffen, als sie zu einem Teilnehmer aufschaut, der gerade rückwärts auf einem Pferd sitzt. Ihre Hand liegt währenddessen auf dem Pferderücken.
Sehr viel geordneter geht es bei der Reiterstaffel der Polizei zu. Hier müssen die Pferde bedingungslos ihrer Reiterin oder ihrem Reiter gehorchen. Ein Foto zeigt sechs Polizeibeamte von hinten, Männer und Frauen, die auf ihren Pferden sitzen. Im Hintergrund erkennt man das Dortmunder Fußballstadion. Die Beamten sind aufmerksam und konzentriert. Ihre Aufgabe ist es, in gefährlichen Situationen für Sicherheit zu sorgen. Dafür müssen sie mit ihrem Pferd zum Beispiel in eine aufgebrachte Menschenmenge hineinlaufen, was eigentlich dem Naturell der Tiere widerspricht. Deshalb müssen Pferd und Polizeibeamte in einem jahrelangen Training dafür üben. Durch den engen Kontakt werden sie zu einem eingespielten Team, das partnerschaftlich schwierige Situationen meistert.
Ganz anderen Herausforderungen müssen sich Holzrücker mit ihren Kaltblütern stellen. Im Arnsberger Wald, für Maschinen schwer erreichbar, begleiten wir eine Gruppe Forstarbeiter während eines Seminars. Sie sollen lernen, mit dem Pferd gefällte Bäume zu transportieren, und zwar boden- und umweltschonend, also im Sinne der Nachhaltigkeit. Dafür werden die Baumstämme an Zugketten befestigt und vom Pferd über den Waldboden geschleift – über Stock und Stein, durch Äste und Gestrüpp. Die Holzrücker halten das Pferd am langen Zügel und geben ihre Kommandos aus ein paar Metern Entfernung, über Rufe und Gesten. Wie geschickt die Pferde sind! Sie können sehr genau abschätzen, wie schwer ihre Last ist, und wie sie am besten mit ihren Kräften haushalten.
Schließlich landen wir noch einmal in der Vergangenheit und lernen einen Göpel kennen. Ein Göpel ist eine Vorrichtung zur Kraftübertragung, die früher im Bergbau und in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Im LWL-Ziegeleimuseum in Lage dürfen wir ein Pferd beim Ziehen eines Tongöpels beobachten. Das bedeutet: Das Tier dreht Runden um ein Becken und treibt dadurch ein Rad an. Dieses Rad vermischt die Zutaten, die man für Ziegel benötigt: Ton, Sand und Wasser. Hinter dem Pferd sitzt eine Frau auf einem Bänkchen und fährt die Runden mit, immer in dieselbe Richtung. Sie achtet darauf, dass ein gleichmäßiges Mischergebnis entsteht und passt gegebenenfalls das Tempo oder den Radstand an. Für die Pferde ist dieses eintönige Laufen in Runden eine schwere Belastung. Heute wird diese Arbeit heute nur noch ab und zu im Museum vorgeführt. Dabei steht das Wohl des Pferdes immer an erster Stelle.
Worte und Wärme
Heute lässt der Wind einfach nicht locker. Wir sind in Freckenhorst unterwegs und besuchen die Reitschule Schulze-Niehues. Hier möchten wir einer Gruppe Reiterinnen und Reiter bei der Bodenarbeit zuschauen. Was zunächst unspektakulär wirkt, wird schließlich ein beeindruckendes Resultat hervorbringen.
Eine Frau und ein braunes Pferd auf einem sandigen, eingezäunten Platz. Die Frau trägt Jeans und Bluse, Zopf und Brille. Sie hält das Pferd locker am Strick und führt es neben sich unter einem Bogen hindurch. Dabei scheint sie mit dem Tier zu sprechen. Der Bogen ist an zwei Metallstangen befestigt, die in den Felgen alter Autoreifen stecken. Oben in der Mitte hängt ein blaues Stück Stoff mit bunten Flatterbändern. Der Stoff bläht sich im starken Wind auf. Das Pferd hat seinen Kopf etwas gesenkt, um unter dem Bogen hindurch zu passen. Auch die Frau geht nicht aufrecht, ihr Oberkörper ist nach vorne gebeugt. Dabei hätte sie den Bogen selbst mit geradem Rücken nicht berührt. Offenbar macht sie dem Pferd eine Bewegung vor, und das Tier macht sie nach.
Bei der Bodenarbeit wird das Pferd Schritt für Schritt an ein unbekanntes Objekt herangeführt, bis es am Ende nicht mehr davor zurückschreckt. Von Natur aus sind Pferde Fluchttiere. Vor allem, was ihnen bedrohlich erscheint, laufen sie instinktiv davon – auch vor einem Metallbogen mit Flatterband. In der Reitschule lernen die Schülerinnen und Schüler, sich in ihr Pferd einzufühlen. Nur wenn sie behutsam und ohne Druck vorgehen, überwindet das Tier seine Furcht und entwickelt das nötige Vertrauen. Die Stute, die wir an diesem Tag unter dem Bogen fotografieren, ist ein besonders schreckhaftes Tier. Umso mehr rührt es uns, wie es der Frau mit großer Ruhe und Geduld gelingt, sie unter dem Bogen hindurchzuführen. Ein ergreifender Moment!
Reiterinnen und Reiter nutzen jede Gelegenheit, um Nähe zu ihrem Tier herzustellen – zum Beispiel die Pflege. Die Hufe müssen regelmäßig ausgekratzt und hin und wieder eingeölt werden. Mit einem Striegel wird das Fell vorgereinigt, Schmutzpartikel mit einer Wurzelbürste entfernt. Gegen den feinen Staub wird eine weiche Bürste, die sogenannte Kardätsche, verwendet. Durch die leichte Massage kommt der natürliche Glanz des Fells wieder zum Vorschein, und der Reiter spürt, wie sich die Muskeln des Tieres entspannen. Die Pferdepflege ist also viel mehr als eine Notwendigkeit: Streicheleinheiten, Geborgenheit und Wärme stärken die Beziehung zwischen Mensch und Tier.
Horsemanship – so nennt man die ganzheitliche Vertrauensarbeit mit dem Pferd. Das Ziel: die Wahrnehmung des Tieres verstehen, seine natürlichen Instinkte respektieren, seine Anatomie kennen und bei der Arbeit berücksichtigen. Diese Haltung können Interessierte bei einer Horsewoman in Datteln erlernen: Sie verständigt sich mit dem Pferd über Berührungen, Blicke und Gesten, oder auch über Worte. Zuvor hat sie das Tier aufmerksam beobachtet. Denn Pferde kommunizieren vor allem über ihre Körpersprache. Natürlich reagieren nicht alle Tiere gleich, jedes hat seinen eigenen Charakter. Doch nur wer achtsam mit einem Pferd umgeht, kann sein Vertrauen und seine Zuneigung gewinnen.
Leib und Leben
Es ist ein sonniger Sommertag in Münster, wir sind auf dem Weg zur Hufschmiede Niemerg. Sie liegt etwas versteckt in einem Innenhof im Stadtzentrum, eine kleine Insel, abgeschirmt vom Getöse der Stadt. Als wir ankommen, staunen wir über den Andrang: Etliche Pferdebesitzerinnen und -besitzer fahren mit ihren Anhängern in die verwinkelte Einfahrt. In einer Schlange warten sie geduldig, bis ihre Vierbeiner an der Reihe sind.
Aus der Schmiede dringen gleichmäßige Hammerschläge über den Hof. Durch einen offenen Spalt sieht man mehrere Feuer in einem riesigen Rauchfang. Wir betreten einen hohen, kahlen Raum. Rauchschwaden schweben durch die Luft, es riecht nach verbranntem Horn und Metall, und unsere Ohren müssen erst einmal die Geräusche sortieren: leise Stimmen, ein Zischen, angestrengtes Atmen, Wiehern und das ungeduldige Scharren von Hufen. Hier bekommen die Pferde also neue Eisen angepasst.
In der Mitte des Fotos steht ein Mann. Sein schwarzes T-Shirt hat kurze Ärmel, die Hände stecken in Arbeitshandschuhen, Hüfte und Beine sind mit einem Schutz aus dunklem Leder bedeckt. Rechts neben dem Mann, zur Hälfte im Bild, ein braunes Pferd mit heller Mähne von hinten. Sein linkes Hinterbein ist abgewinkelt, und der Mann hält es so fest, dass der Pferdefuß auf seinem Oberschenkel liegt. Ein zweiter Mann presst mit einer Zange ein rotglühendes Hufeisen unter den Fuß des Pferdes. Direkt darüber steigt Rauch auf, in kleinen hellen Kringeln.
Das Pferd bleibt ruhig und lässt sich bereitwillig festhalten. Offenbar vertraut es dem Hufschmied. Auf dem Hof können wir beobachten, wie es dem Schmied gelingt, dieses Vertrauen von Anfang an herzustellen: Vorsichtig und liebevoll begrüßt er das Pferd und erklärt dem Besitzer oder der Besitzerin, wie er vorgehen wird und was er tut, falls Probleme auftauchen. Dann begutachtet er das Tier beim Traben durch den Hof. Erst wenn er genau weiß, wie das Pferd sich bewegt, macht er sich ans Werk. Er nimmt einen Rohling – ein u-förmiges Stück Eisen mit Löchern für Nägel – und schmiedet ihn so, dass er genau auf den Huf des Pferdes passt. Am Ende wird das Eisen mit ein paar Nägeln am Huf befestigt. Der Pferdebesitzer ist die ganze Zeit dabei, um dem Pferd die nötige Ruhe zu geben.
In der Hofsattlerei Cosack in Arnsberg geht es ebenfalls darum, den Tieren etwas auf den Leib zu schneidern – und gleichzeitig den Reiterinnen und Reitern. Pferde und Menschen werden hier genau vermessen, bevor das Leder zugeschnitten und vernäht wird. Denn der Sattel ist das entscheidende Verbindungsstück zwischen Mensch und Tier. Je genauer er den beiden angepasst ist, desto besser können sie miteinander kommunizieren. In der Hofsattlerei ist das gesamte Team mit großem Feingefühl bei der Sache, das merkt man sofort. Kein Wunder: Alle Angestellten reiten auch selbst und wissen, worauf es ankommt.
In den Operationssälen der Tierklinik Telgte herrscht eine völlig andere Atmosphäre. Hier geht es um Leben um Tod, die Pferde sind krank oder verletzt. Vor der Operation werden die Tiere sehr behutsam in einen Narkosezustand versetzt. Währenddessen ist immer jemand bei ihnen. Dann werden sie kopfüber an die Decke gehängt und über ein Schienensystem in den OP-Saal transportiert. Ein schauriger Moment: Jede Lebendigkeit scheint aus ihnen gewichen zu sein, und mit ihrem felligen Leib wirken sie wie Fremdkörper in einer sterilen Umgebung. Aber auch hier beobachten wir, dass die Menschen sich nicht nur professionell, sondern auch liebevoll um die Tiere kümmern. Der Augenblick, in dem die Pferde aus der Narkose erwachen, ist noch einmal heikel: Sie könnten in Panik geraten und das Pflegepersonal oder sich selbst verletzten. Deshalb kommen die Tiere zum Aufwachen in einen gepolsterten Raum, und die Pflegekräfte behalten sie per Video im Blick.
Auf der Zuchtstation des Landgestüts Warendorf erwarten uns eine karge Umgebung und klar geregelte Abläufe. Wir stehen in einem weiß gefliesten Labor mit nackten Wänden, technischen Geräten und zwei Arbeitsplätzen. Ein Mann mit Schürze hantiert bei grellem Licht mit Messbecher und Trichter. In einem kahlen, ungemütlichen Raum wird ein Hengst abgesamt. Er hat eine Attrappe besprungen, die dem Körper einer Stute ähneln soll. Sein Samen wird aufgefangen und zur Zucht verwendet. Zum Ende der Bildserie, wenn bereits neues Leben entstanden ist, werden die Farben und Motive deutlich wärmer: In einem Stall steht ein braunes Fohlen, noch ganz wacklig auf den Beinen. Dann schmiegt es sich an das Muttertier und lässt sich von ihm ablecken. Und zuletzt kommt wieder ein Mensch ins Spiel: eine blonde Frau, die ein Jungtier locker an einer Kette hält und es liebevoll am Kinn krault.
Zügel und Zöpfe
Eines fällt auf dem Foto besonders auf: das Heu. Jede Menge kurze Halme, die sich überall festgesetzt haben. Vier Mädchen, etwa 14 Jahre alt, stehen vor einer dunklen Holzwand. Alle vier tragen einen Zopf. Das Heu haftet an ihren Haaren, an ihren Stirnbändern und an ihren Jacken. Wo kommen sie gerade her? Vermutlich aus dem Stall. Vielleicht haben sie ihn ausgemistet, Schubkarren bewegt und Stroh verteilt. Oder sie haben sich gegenseitig ins Heu geworfen und eine kleine Schlacht ausgetragen. Klar ist: Die Mädchen gehören zusammen. Man erkennt Pferdesymbole und Vereinslogos auf ihrer dunkelblauen Kleidung. Zwei von ihnen unterhalten sich angeregt, die anderen beiden blicken schweigend nach links in die Ferne, aufmerksam und fast etwas sehnsüchtig. Beobachten sie ihre Pferde auf der Koppel?
Wir befinden uns auf dem Landgut Papenhausen in Bad Salzuflen. Eine Gruppe Mädchen im Alter von 7 bis 15 Jahren macht dort Reiterferien. Das bedeutet: frühmorgendlicher Reitunterricht, inniges Schmusen und Spielen mit den Pferden, aber auch diszipliniertes Arbeiten wie Ausrüstung pflegen und Stall ausmisten. Als wir mit der Kamera auftauchen, sind die Mädchen zuerst etwas schüchtern. Aber schnell haben sie unsere Anwesenheit vergessen und konzentrieren sich wieder auf die Tiere. Auf den meisten Fotos halten die Pferdemädchen Gegenstände in den Händen: eine Bürste, einen Sattel, einen Reithelm oder einen Reisigbesen. Sie striegeln ihre Pferde, brechen zum Ausritt auf oder kehren den Stall aus. Man sieht ihnen die Freude am gemeinschaftlichen Tun an – und man kann sie auch hören: Die Mädchen reden und lachen die meiste Zeit. Aber es gibt auch leise, innige Momente. Ein Mädchen mit langem Pferdeschwanz sitzt allein auf einem Strohballen vor einer Stalltür. Mit der rechten Hand füttert sie ihr Pferd, mit der linken hält sie es am Halfter fest. Dabei blickt sie dem Tier tief in die Augen, ganz so, als hätte sie den Rest der Welt komplett vergessen.
An einem leicht bewölkten Sommertag begleiten wir vier Erwachsene durch das grüne Münsterland. Ein Unternehmen bietet dort geführte Wanderritte an. Diesmal sind ein Mann und drei Frauen im Westernstyle dabei: Sie tragen Cowboyhüte und Lederwesten. Auf Tinkerhorses, einer robusten Pferderasse aus Irland, reiten sie zusammen durch die Felder und Wälder. Der perfekte Ausgleich zum Alltag: Beim gemeinsamen Reiten kann man die Landschaft genießen, in Ruhe seinen Gedanken nachhängen oder auch das Gespräch suchen. Zwischendurch eine idyllische Rast unter freiem Himmel: Die Reiter stärken sich an einer ländlich geschmückten Tafel mit Kaffee und Kuchen, die Pferde gleich daneben mit frischem Gras.
Einem ganz anderen Stil begegnen wir bei einer Kutschfahrt durch die Stadt Soest. Alles wirkt sehr feierlich: Vier schwarze Pferde ziehen eine weiße Kutsche mit roten Samtpolstern durch die Straßen. Der Kutscher trägt ein helles Jackett mit passendem Zylinder, seine Begleiterin das Gleiche in Schwarz. Die Pferde sind mit Zaumzeug in Weiß und Fliegenmützen über den Ohren zurechtgemacht. Eine hübsche Inszenierung, die vor allem für Hochzeiten gebucht wird.
Die romantische Ader vieler Menschen berührt auch eine Schlittenfahrt durch das verschneite Winterberg. Wir reisen an einem Tag mit frisch gefallenem Pulverschnee an und können uns der zauberhaften Atmosphäre nicht entziehen. Der Schnee glitzert in der Sonne, die Menschen sitzen mit Fellmützen und Wolldecken auf dem Holzschlitten, und zwei starke, freundliche Pferde sorgen dafür, dass alle den Ausblick über das Sauerland genießen können. Am Ende eines kalten, anstrengenden Tages wird den Tieren mit Streicheleinheiten gedankt.
Sporen und Spannung
Eine Arena mit sandigem Boden, helles Licht fällt durch die großen Fenster, Staub hängt in der Luft. Ein Mann mit Cowboyhut sitzt auf einem Pferd, inmitten einer Herde von Kälbern. Er trägt ein kariertes Hemd und eine schwarze Lederhose mit Nieten. Doch auch wenn Vieles darauf hindeutet: Wir befinden uns nicht sandigen Südwesten der USA, sondern in einer Reithalle in Marl, bei den Döring Quarter Horses. Der Reiter, ein junger Mann mit blonden Haaren fixiert ein weißes Kalb. Es ist eine direkte Konfrontation, das Kalb starrt zurück. Das Pferd ist mitten in einer Bewegung. Es hat die Augen aufgerissen und den Oberkörper verdreht, so scheint es jedenfalls. Man sieht seine vier Beine nebeneinander, die Hinterbeine links, die Vorderbeine rechts, Sand aufwirbelnd.
Hinter Pferd und Reiter stehen weitere Kälber, eng beieinander. Sie sind etwas zurückgewichen und beobachten das Spektakel aus sicherer Entfernung. Um sie geht es nicht, zumindest nicht im Moment. Es ist das eine Kalb, das aus der Menge herausgeschnitten werden soll. Cutting heißt dieser Sport. Der Reiter muss das Tier daran hindern, seinem natürlichen Trieb zu folgen und zum Rest seiner Herde zurückzukehren. Das isolierte Kalb steht regungslos da, die Muskeln unter Spannung. Was wird es wohl tun?
Ähnlich spannungsgeladen geht es bei einem Galopprennen zu. Hier dreht sich alles um die Renngeschwindigkeit der Pferde – und um die hohen Wetteinsätze des Publikums. Auf der Galopprennbahn Dortmund können wir das Geschehen aus der Nähe beobachten. Es ist ein hartes Geschäft. Die Atmosphäre ist hektisch, laut und angespannt. Die Besucherinnen und Besucher füllen Wettscheine aus und vergleichen Rennergebnisse, aus Lautsprechern dröhnen Kommentatorenstimmen, die filigranen Jungpferde tänzeln nervös vor den Startboxen herum. Die Jockeys, also die leichtgewichtigen Reiter, lernen ihre Rennpferde erst kurz vor dem Start kennen. Kaum ist der Startschuss gefallen, treiben sie die Tiere mit einer Gerte und lauter Stimme bis an ihre Grenzen. Am Ende stehen die siegreichen Jockeys mit ihren Trophäen vor den Pressekameras – und die schwer atmenden Pferde werden abgeduscht, irgendwo im Hintergrund.
In anderen Sportarten, zum Beispiel beim Dressurreiten, bekommt auch das Siegerpferd eine Auszeichnung: eine Turnierschleife mit Rosette, die am Zaumzeug befestigt wird – je nach Platzierung in einer festgelegten Farbe. Beim Dressurreiten geht es darum, das Pferd mit minimalen Körpersignalen zum exakten Ausführen einer Aufgabe zu bewegen, zum Beispiel dass es auf der Stelle trabt oder eine Pirouette dreht. Beim Vielseitigkeitsreiten müssen Mensch und Tier viele verschiedene Fähigkeiten unter Beweis stellen, etwa bei einem Ritt durch unwegsames Gelände und beim Springen über Hindernisse. Grundsätzlich ist die Herausforderung in jedem Pferdesport, das Tier im entscheidenden Moment zu einer gewünschten Leistung zu motivieren: zum Laufen oder Springen, in einem exakten Tempo oder in eine bestimmte Richtung.
Im abendlichen Sonnenlicht fahren wir nach Lemgo, um einem Voltigierteam beim Turniertraining zuzusehen. Ein Pferd läuft im Kreis an einer langen Leine, der so genannten Longe. Währenddessen machen Turnerinnen und Turner auf dem Rücken des Pferdes akrobatische Übungen: Handstand, Flickflack oder Radschlagen. Manchmal bis zu vier Personen gleichzeitig – eine enorme Leistung der Sporttreibenden, aber auch des Pferdes. Trainiert wird auf einem Holzpferd, damit das echte Tier nicht überstrapaziert wird. Den engsten Kontakt zum Pferd hat die Longenführerin, die auf Turnieren ebenso bewertet wird wie die Turner. Sie muss das Tier besonders gut kennen, um es präzise lenken zu können. In Lemgo beobachten wir schon vor dem Training beim Striegeln, wie groß das Vertrauen zwischen ihr und dem Hengst ist. Die leichtfüßige Eleganz der Sportler, die sich so gefühlvoll den Bewegungen des Pferdes anpassen, ist beeindruckend. Und obwohl das Voltigierteam sehr hart trainiert, herrscht in der Halle eine fröhliche Stimmung.
Tempo und Tradition
Wir haben Glück mit dem Wetter, als wir ins Münsterland aufbrechen: Es ist angenehm kühl und trocken. An diesem Wochenende wollen wir dabei sein, wenn eine alte Tradition gefeiert wird: die Schleppjagd. Auf einem Hof in Alverskirchen tauchen wir ins Gewimmel ein. Hier startet die Veranstaltung mit etwa 120 Beteiligten – ein Drittel Menschen, ein Drittel Pferde und ein Drittel Hunde. Als wir ankommen, riechen wir den Duft von Kaffee, hören Stimmen und Gelächter, dazu erklingt Blasmusik: das traditionelle Stelldichein. Später werden Rufe, Hufgetrappel, und lautes Hundegebell dazu kommen. Und der Duft von Eukalyptus-Öl.
Spätsommerlicht auf einem Stoppelfeld: fünf Menschen auf ihren Pferden von hinten, eine Frau und vier Männer jeden Alters. Sie tragen rote oder braune Jagdröcke mit goldenen Knöpfen, elegante Lederstiefel und dunkle Reithelme. Einer der Reiter hält eine lange Peitsche in der Hand. Zwischen den Pferden, in einer Staubwolke, ein Rudel kleiner Hunde mit weiß-braun geflecktem Fell. Die Beagles sind dicht aneinandergedrängt und richten ihre Schwänze senkrecht nach oben, wie kleine Pinsel. Ein paar Meter weiter hinten, in der Mitte des Fotos, ein weißhaariger Mann, der in ein Jagdhorn bläst. Neben ihm scheinen noch mehr Musiker zu stehen, doch sie kann man nur erahnen.
Das Jagdhorn markiert traditionell den Beginn der Schleppjagd. Die Hunde laufen zu diesem Zeitpunkt noch in der Mitte der Meuteführer. Etwas später werden sie auf eine Fährte gesetzt, die so genannte Schleppe, nach der die Schleppjagd benannt ist. Heute bekommen zwei Pferde etwas Eukalyptus-Öl unter die Hufe geträufelt und galoppieren voraus. Als sie weit genug weg sind, werden die Hunde losgelassen, um mit ihren feinen Nasen der Duftspur zu folgen – in rasantem Tempo und mit lautem Gebell. Dann galoppieren die Reiterinnen und Reiter los. Sie verfolgen die Hundemeute und müssen auf dem Weg Hindernisse überwinden. Manche tragen dabei Westen mit Airbags, um bei Stürzen gut geschützt zu sein. Zum Glück verletzt sich heute niemand! Auch sonst verläuft die Jagd ohne jedes Blutvergießen. Am Ende werden die Hunde wieder in einen Kreis zusammengetrieben. Zur Belohnung bekommen sie einen Rinderpansen, den sie vor unseren Augen gierig verschlingen. Die Bläser spielen noch ein Abschiedsstück, und die verschwitzten Reiter rufen sich "Halali" zu, den typischen Jagdgruß. Dann kehren alle zurück zum Hof, wo sie den gelungenen Tag mit einem Umtrunk feiern.
Als nächstes machen wir uns auf zu einem echten Publikumsmagneten: der Hengstparade in Warendorf. Schon die Kulisse ist imposant: Auf einem denkmalgeschützten Gelände wird jeden Sommer drei Tage lang vorgeführt, was die Zuchthengste zu bieten haben. Ihre Mähnen sind eingeflochten, ihr Fell ist auf Hochglanz gebürstet und ihre Fesseln stecken in weißen Gamaschen – jedenfalls die der Warmblüter. In einer aufwendigen Show präsentieren sich die Pferde vor der Kutsche, unter dem Sattel und an der Hand. Mehrere Tausend Gäste strömen jedes Jahr zu der Veranstaltung. Beim Publikum besonders beliebt sind die Rheinisch-Deutschen Kaltblüter, Schwergewichte mit zotteligen Fesseln, die vor Wagen mit zwei Rädern gespannt werden.
Wie ungestüm geht es dagegen in Dülmen zu! Einmal im Jahr gibt es hier einen Wildpferdefang, und zwar in einer Arena im Merfelder Bruch. Was viele nicht wissen: Dort leben etwa 400 Wildpferde in einem Naturschutzgebiet, eine der letzten Herden in Europa. Jedes Jahr im Frühsommer werden die Jährlingshengste von der Herde getrennt, um Rivalitäten zu vermeiden und die Herde nicht größer werden zu lassen. Etwa 30 mutige Männer fangen die jungen Hengste ein, 15.000 Besucherinnen und Besucher verfolgen das Spektakel von ihren Plätzen aus. Kurz bevor die Tiere auftauchen, herrscht erwartungsvolle Stille in der Arena – als hielten die Menschen auf den Rängen alle gleichzeitig die Luft an.
Und dann kommen die Pferde hereingestürmt – eine riesige, schwarz-braun-weiße Herde, die in dem staubigen Licht fast aussieht wie gemalt. Die Schönheit der Tiere und ihr ungezügelter Freiheitsdrang sind überwältigend. Wir können uns einfach nicht sattsehen an den bezaubernden Pferden. Und immer wieder stockt uns der Atem, wenn die Männer mit bloßen Händen einen Hengst einfangen. Ein unvergleichlicher Anblick!
Anmut und Atem
Nun sind wir am Ende unserer fotografischen Reise angelangt – eine Reise durch Reithallen und Arenen, über Wiesen und Wälder, durch Werkstätten und Labore, über Sand und Asphalt.
Das historische Wappentier der Provinz Westfalen, in der all unsere Fotos entstanden sind, ist übrigens ein Pferd: ein steigendes Ross mit lockiger Mähne und hochgeschlagenem Schweif. Bei unseren Fototerminen fühlten wir uns manchmal in vergangene Zeiten zurückversetzt. Zeiten, in denen Pferde im Alltag der Menschen noch eine andere Rolle spielten – nämlich als Arbeits- und Nutztiere. Heute sind sie darüber hinaus auch Freunde, Partner und Begleiter.
Unsere Fotoreise hat uns immer wieder deutlich gemacht: Wer mit Pferden zu tun hat, ist eng mit der Natur verbunden. Natur im Sinne von Frischluft und Landschaft, und Natur im Sinne von Ursprünglichkeit. Pferde strahlen große Anmut aus. Es ist eine Mischung aus Schönheit, Eigensinnigkeit und Verletzlichkeit, die sie so einzigartig macht. Und viele Menschen wissen: Wer die Tiere fürsorglich behandelt, bekommt das schönste Geschenk, das man sich vorstellen kann: Vertrauen, eine besondere Art der Freundschaft – und das wundervolle Geräusch ihres Atems.
Text: Stefanie Pütz, (c) LWL-Medienzentrum für Westfalen